Episode 10
Verbindungen
Episode 10
Verbindungen
askd: Marilena Tumler, i.appear
Wenn ich eine Zeitmaschine hätte, würde ich – unsichtbar – ins Mittelalter reisen.
Marilena Tumler macht Geschichte nicht nur erfahrbar, sie macht sie begehbar. Mit ihrer App i.appear verwandelt sie Orte in erzählende Räume, Straßen in Geschichten und Spaziergänge in immersive Erlebnisse. Sie verbindet historische Tiefe mit digitaler Technologie.
Geschichte digital erlebbar
Mit i.appear entsteht eine Verbindung zwischen dem kulturellen Erbe der Vergangenheit und den Möglichkeiten von morgen.
Wenn du eine Zeitmaschine hättest – in welches Zeitalter würdest du mit deiner App reisen?
Auf jeden Fall ins Mittelalter. Aber unsichtbar – weil ich eine Frau bin. Und als solche war es damals vermutlich besser, nicht aufzufallen. Außerdem: Wenn ich unsichtbar bin, kann ich auch keine Zeitfehler machen. Also ja – unsichtbar ins Mittelalter.
Warum das Mittelalter? Was fasziniert dich an dieser Epoche?
Ich finde besonders das späte Mittelalter wahnsinnig spannend. Ich habe meine Bachelorarbeit über Frauen und ihre Berufschancen im spätmittelalterlichen Wien geschrieben. Dabei bin ich auf unglaublich faszinierende Biografien und Lebensrealitäten gestoßen.
Damals oder heute?
Heute. Damals war zwar vieles sehr romantisch – aber das Heute ist definitiv sicherer.
Du machst Geschichte digital lebendig – mit einer App. Wie kam es zur Idee? War es ein Geistesblitz während des Studiums oder eher ein langsamer kreativer Prozess?
Ganz ehrlich: In der Schule war Geschichte nicht mein Lieblingsfach. Da haben mich eher Philosophie, Ethik und Psychologie interessiert. Erst im Studium hat sich das verändert. Ich wollte eigentlich Lehramt studieren und habe überlegt, welche Fächer noch infrage kommen. Und dann habe ich gemerkt: Geschichte ist doch wahnsinnig spannend. Anfangs vor allem die Zeitgeschichte, also eher die politischen Geschehnisse – später dann auch andere Epochen. Während des Studiums ist es dann durch die Erweiterung des Wissens auch epochenübergreifend spannender geworden.
Und wann entstand die Idee zur App?
Während des Studiums in Wien. In einem Seminar sollten wir ein Denkmal auswählen und darüber eine Geschichte erzählen. Ich habe den Gedenkstein vor dem Stadtarchiv in Dornbirn gewählt und angefangen, Biografien dazu zu recherchieren. Dabei wurde mir klar: Das sind Orte, an denen wir täglich vorbeigehen – und trotzdem kennen wir ihre Geschichten nicht. Das fand ich unglaublich spannend. So entstand die Idee für einen historischen Rundgang. Eine Freundin von mir forschte damals in Amsterdam zu Virtual Reality, und ich dachte: Für dieses Erlebnis passt Augmented Reality eigentlich besser. So hat sich die Idee entwickelt.
Erbe und Zukunft
Zwischen Augmented Reality, Storytelling und Community-Sinn verwebt Marilena kulturelles Erbe mit Zukunftstechnologie – und stellt dabei immer eine Frage ins Zentrum: Wie können wir unsere Geschichte so erzählen, dass sie uns heute berührt und morgen weiterträgt?
„Im Austausch entstehen die besseren Ideen.“
Zwischen Bildung und Gamification
Bildung und Gamification sind keine Gegensätze, sondern zwei Pole, zwischen denen wir uns bewegen können. Die Balance hängt vom jeweiligen Projekt ab.
i.appear ist sowas wie das „Pokémon Go“ der Geisteswissenschaften – kann man das so sagen?
Genau, das war tatsächlich das Vorbild. (lacht) Die App ist sowas wie das Pokémon Go der Geisteswissenschaften.
Warum ist deiner Ansicht nach der Gamification-Faktor wichtig?
Das ist je nach Rundgang unterschiedlich. Die Fragen sind: Wer ist meine Zielgruppe? Was will ich vermitteln? Braucht es Gamification – oder steht der Bildungsaspekt im Vordergrund? Bei hist.appear, dem digitalen Stadtrundgang hier in Dornbirn, sind die Texte für eine App vergleichsweise lang – dafür ist sie auch für den Schulunterricht gedacht. Lehrkräfte sollen sie direkt nutzen können, ohne viel Vorbereitung. Bei Stadtspuren wird an 15 Stationen die Geschichte der Industrie und ihres Wandels erzählt. Hier richtet sich das Angebot an ein anderes Publikum – die Texte sind entsprechend kürzer. Also: Gamification ja – aber immer abhängig vom jeweiligen Projekt.
Du denkst bereits größer – Stichwort Bodenseeregion: Welche Städte oder Themen sind bei euch auf der Agenda? Und wie entscheidet ihr, welcher Spot AR-würdig ist?
Grundsätzlich freuen wir uns über alles, was Geschichte und historischen Wert hat, weil ich das einfach wahnsinnig wichtig finde. Dabei geht es nicht nur um Tourist:innen, sondern auch um die Menschen, die hier leben und so ihr Zuhause aus einer anderen Perspektive entdecken können. Gerade haben wir ein eher kommerzielles Projekt in Arbeit, das bald startet und mit Spannung erwartet wird. Da würde ich mich natürlich sehr freuen, wenn die Personen, die nostalgisch einem sprechenden Baum im Messepark zuhören, auch andere Rundgänge in der App entdecken – und am nächsten Tag in der Augmented Reality eine Unterhaltung mit dem Streikposten oder dem Firmenbesitzer der Rüsch-Werke führen können. So soll auch ein immer breiteres Publikum angesprochen werden. Und wegen der AR-Spots: Die sind überall da, wo etwas fehlt, das einmal dort war.
Was wäre dein Lieblingsrundgang, den du gerne einmal machen würdest?
Wir würden total gern einen Rundgang quer durch Vorarlbergs Burgen machen. Burgen und das Mittelalter sprechen einfach eine sehr breite Zielgruppe an und sind außerdem visuell wahnsinnig ansprechend. Wenn ich zum Beispiel eine Ruine habe, könnte ich die Burg in Augmented Reality zum Leben erwecken. Oder wenn die Burg noch steht, kann ich mit immersiven Inhalten und Storytelling richtig spannende Erlebnisse schaffen. Genau das würde ich gerne mal machen.
Augmented Reality, Storytelling, Location-Based Magic – das ist ja eigentlich eine Symbiose zwischen analoger und digitaler Technologie, oder?
Auf jeden Fall. Im Prinzip bringen wir analoge Inhalte in den digitalen Raum. Damit machen wir sie zugänglicher. Denn: In einem Archiv gibt es so vieles zu entdecken – aber mal ehrlich: Wer geht schon ins Archiv, um alte Fotos anzuschauen?
„Zusammenarbeit kann eben auch herausfordernd sein.“
Bewusstseinsbildung durch Interaktion
In deiner App i.appear steckt sehr viel Entwicklung und Forschung …
Ja, auf jeden Fall. Wir haben die App schon dreimal evaluiert – was immer spannend war: Wie ist die User Experience? Wie funktioniert das Storytelling? Für ein Projekt mit dem Vorarlberg Museum ging es darum, den musealen Raum zu erweitern und zu sehen, wie die Menschen das annehmen. Dabei zeigte sich ein interessanter Unterschied: Die jüngere Generation liebt vor allem die Augmented Reality und die spielerischen Elemente, während bei der älteren Generation das Storytelling stärker ankam. Im Audioguide gab es zum Beispiel einen halb fiktiven Charakter – den Barockbaumeister Franz Bär. Eine Besucherin hat das schön formuliert: „Die Reise mit Franz Bär hat mir sehr gut gefallen.“ Für sie war es also deutlich mehr als „nur“ zuhören. Wir haben mit älteren und jüngeren Personen evaluiert und festgestellt: Es gibt für alle einen Zugang, der gut funktioniert.
Wie finanziert sich die App?
Wir haben einen großen Gründungskredit aufgenommen. Ansonsten kommen die Mittel von Gemeinden oder Auftraggeber:innen. Je nach Umfang – also wie viele Stationen und wie viel Inhalt – gibt es unterschiedliche Modelle. Eine animierte AR kostet natürlich mehr als nur ein Bild im Raum, weil der Arbeitsaufwand deutlich größer ist.
Aktuell ist die App kostenlos – wird das so bleiben?
Ja. Für mich stand die Kostenpflicht nie zur Debatte, weil Bildung für mich immer im Vordergrund steht – und die sollte frei zugänglich sein. Wir wollen die Hürden so niedrig wie möglich halten, das ist mir sehr wichtig. Deshalb gibt es auch verschiedene Schienen: i.grow ist die Bildungsschiene, i.time die historische, und dann gibt es noch i.dentity, wo es mehr um Firmenidentität geht. Und hier gibt es auch andere Kostenmodelle.
Ich finde den Identitätsgedanken hinter den Rundgängen total spannend. Brücken zur Gegenwart zu schlagen oder sogar in Richtung Zukunft. Und damit auch Identität und Orientierung zu geben.
Ja, genau. Das war auch einer der Grundgedanken: Die Menschen dort abzuholen, wo sie gerade sind – und diesen Moment mit Hintergrundinformationen anzureichern.
Ziel ist es, die Menschen dort abzuholen, wo sie gerade sind
Identität schaffen. Orientierung geben – i.appear holt Menschen in ihrer Lebensrealität ab – mit digitalen Rundgängen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verweben.
Forscherin, Mentorin und UX-Philosophin
Die Kunst liegt darin, eine Art Dirigent:in im Hintergrund zu sein – jemand, der Verbindungen herstellt.
Ist der Campus V für dich dein persönlicher Creative Space, eine Research-Basis – oder beides?
Beides, würde ich sagen. Gerade in der Lehre hilft mir meine Tätigkeit als Unternehmerin total. Erst gestern haben wir das Seminar „Digital Life E-Skills“ für die Intermedia-Bachelors abgeschlossen. Da geht’s viel um Plattformökonomie, Produkte und Themen wie UI, UX und Design. Weil ich selbstständig bin und ständig mit neuen Dingen in Kontakt komme, befruchtet sich das alles gegenseitig. Es ist nicht direkt verbunden – aber da ist auf jeden Fall eine schöne Wechselwirkung.
Zwischen Forschung, Teaching und Unternehmertum – was bist du am liebsten: Forscherin, Mentorin oder UX-Philosophin?
Am liebsten? Das ist wirklich eine gute Frage. Ich unterrichte wahnsinnig gern. Gleichzeitig entwickle ich auch sehr gerne neue Konzepte – also konzipieren, recherchieren, Texte schreiben – und dann wieder in die Lehre zurückzukehren, das ist einfach schön. Das Tolle ist, dass ich all das machen kann. Natürlich gibt es auch Dinge, die ich nicht kann – zum Beispiel 3D-Modelle erstellen.
Aber das ist ja auch das Reizvolle: dass man sich mit Menschen umgeben kann, die jene Dinge gut können, die man selbst nicht beherrscht.
Ja, auf jeden Fall. Um die 3D-Modelle und Animationen kümmert sich meine Mitarbeiterin Maggy, und durch ein großes Netzwerk sind viele Skills abgedeckt, die ich selbst nicht habe. Auch im Master Design & Creative Leadership an der FH geht es um diese zentralen Fragen: Wie arbeiten kreative Teams ideal zusammen? Wie schafft man als Führungsperson ein Umfeld, in dem unterschiedliche Fähigkeiten wertgeschätzt werden?
Und wie gelingt das?
Für mich kann neues Leadership nicht hierarchisch funktionieren. Die Kunst liegt darin, eine Art Dirigent:in im Hintergrund zu sein – jemand, der Verbindungen herstellt. Neben dem Aufbau der eigenen Expertise müssen wir offener dafür werden, dass andere etwas besser wissen oder können. Alles selbst machen zu können ist völlig unrealistisch.
Ist das ein Wert, den du deinen Studenten mitgeben möchtest?
Auf jeden Fall. Unsere Studierenden arbeiten fast immer in Gruppen – was manchmal auch anstrengend sein kann. Verständlich. Zusammenarbeit kann eben auch herausfordernd sein. Gleichzeitig lernen die Studierenden dabei unglaublich viel – und genau dieses Bewusstsein zu schaffen, ist mir wichtig. Den meisten Raum, zentrale Werte zu vermitteln, habe ich in der Lehre zur Medienethik im Master. Wir leben in einer hochkomplexen Medienlandschaft, und Menschen die Technologien lenken, prägen Gesellschaft. Da finde ich es essenziell, dass Medienschaffende sich mit ethischen Konzepten auseinandersetzen.
Wo siehst du dich bzw. deine App in fünf Jahren?
In fünf Jahren bin ich in Vorarlberg, öffne i.appear – und kann dann rauszoomen über das ganze Land. Ich sehe fünf große Stationen, und wenn ich weiter hineinzoome, ploppen immer mehr Rundgänge auf. Irgendwann merke ich: Ah, dort ist etwas – und da auch! Und dann kann ich mich wirklich in meiner Umgebung orientieren, kann zum Beispiel nach Feldkirch fahren und etwas entdecken. Die Vision ist, dass ein Netzwerk entsteht: ein großes, wachsendes Netz von Rundgängen, das Gemeinden miteinander verbindet. Sie können aufeinander aufmerksam machen, sich gegenseitig stärken. Und die Vielfalt der Inhalte wächst mit – alles soll miteinander verwoben sein.
Zum Abschluss: Dein Tipp zur Weltenrettung?
Dass wir uns – im Sinne des kritischen Posthumanismus – auf die Beziehungen fokussieren. Ich habe das Gefühl, es geht oft zu sehr darum, was wer macht oder ist – also ein eher egoistischer oder zumindest egozentrischer Zugang. Dabei steckt gerade im Miteinander eine ungeheure Kraft. Gemeinsam erreicht man mehr. Im Austausch entstehen die besseren Ideen. Und in Beziehungen bekommen Menschen Halt, Wertschätzung und eine Reflexionsmöglichkeit. Das ist in einer zunehmend individualisierten Welt umso wichtiger. Also ganz klar: Beziehung als Tipp zur Weltenrettung.
Wenn Orte Geschichten erzählen
Ein digitales Netzwerk kultureller Rundgänge – regional verankert, gemeinschaftlich getragen, durch Beziehungen verbunden.

i.appear macht Geschichte erlebbar – mit Augmented Reality, Storytelling und digitalen Rundgängen. Die App verwandelt reale Orte in erzählende Räume und verbindet kulturelles Erbe mit moderner Technologie.

Wirtschaft × Werbung × Weltenrettung

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